24.11.2015, Dienstag – Sturm (Kur 11)

♦ FÜNFUNDDREIßIG WOCHEN NACH DER KATASTROPHE ♦
Ich stehe, wie so oft, im Mondschein auf der Terrasse, da mich die Schlaflosigkeit mit Schmerzen und wehmütigen Gedanken im Griff hat.

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Obwohl ich nur mit einem Pyjama bekleidet bin, spielt die Kälte eine untergeordnete Rolle. Das, was ich sehe, beeindruckt. Seit einigen Tagen pfeift der Wind mit all seinen Tücken über die Insel hinweg. Die aufgewühlte Flut drängt das Meereswasser meterweit vor sich her, bis es schließlich die Promenade überschwemmt. Bereits das ist für (auf)geweckte Naturen, zu der ich im wahrsten Sinne des Wortes gehöre, ein Großereignis, welches die Dunkelheit belebt. Die Nacht ist gerettet. Die Uhr verkündet morgendliche 2.30 Uhr. Trotzdem entdecke ich zwei Personen, die das Ereignis mit ihren Fotoapparaten eifrig würdigen. Einer schraubt sogar an einem Stativ herum. Ich bin also nicht die Einzige, die zu so früher Stunde die Umgebung beobachtet. Ich schleiche zurück in das Zimmer, um das Smartphone zu holen. Mein Mann schläft tief.
Ich versuche, die Naturgewalt zu fotografieren, was mühsam ist, weil der ungestüme Wind an den hochgehaltenen Händen rüttelt.20151114_023325-1024x576-2
Mit dem beginnenden Tag ist es acht Monate her, dass das Leben unseres Kindes gewaltsam beendet wurde. Es ist, wie damals, ein Dienstag.
Voll wehmütiger Gedanken eile ich in der Morgendämmerung zur Seebrücke, wo trotz der orkanartigen Böen Qi Gong stattfindet. Auch die Natur zürnt. Das Unwetter lässt mit aller Kraft die Wellen aufspritzen, deren Gischt uns manchmal trifft. Die Schaumkronen sind schon von Weitem zu sehen. Der starke Südwest drückt mithilfe der Flut das Meer gewaltig ins Land. Mit der nächsten Tide wird die Brücke mit Sicherheit überspült.

20151114_160216-1024x576Der Sturm zerrt an der Kleidung, die Hosenbeine flattern. Es ist eine Herausforderung, auf den Zehenspitzen zu stehen, geschweige denn das Gleichgewicht zu halten, wie es die Übung vorschreibt. Er schüttelt jegliches Qi aus mir heraus. Möchte er mich in das gierende Nass stoßen und mit Jens vereinen? Schnell schiebe ich diese Vorstellung beiseite.
Trotz der Unbilden laufe ich am Wassersaum zurück zur Klinik. Tief atme ich die Seeluft ein, die der heftige Wind in die Lungen presst.
Mir gefällt die raue Atmosphäre, sie passt zu dem gedenkvollen Tag.
Zwischen den Therapien sitze ich hinter der Fensterfront des Zimmers und lese in meiner Neuanschaffung. Oft unterbreche ich, um die tosende See zu betrachten. Bildhaft untermalt sie das soeben Gelesene. Das Buch beschreibt in überlieferten, uralten Erzählungen den oft ohnmächtigen Kampf der Insulaner und Halligbewohner gegen die rasende Naturgewalt, die sie von den Dächern ihrer Häuser riss, auf denen sie versuchten, sich in Schutz zu bringen. Die bleckenden Wellen ergriffen, was sich ihnen in den Weg stellte, und verschlangen dabei Tier und Mensch.
Ebbe und Flut verändern ohne Unterlass die Landschaft, alles ist in Fluss, alles ist in Bewegung – genau wie unser Dasein. Das Meer plätschert mal ruhig vor sich her, mal tobt es wild vor sich hin. Es spendet Nahrung und somit Leben, wir entstammen dem Wasser. Doch einige holt es wieder zurück, es tötet.
Die männlichen Einheimischen hatten sich der Seefahrt verschrieben. Als es keine Heringsbestände mehr gab, wendeten sie sich dem Walfang im Nordmeer zu. Schließlich waren die Säuger ebenfalls ausgefischt. Die Handelsschifferei wurde interessant. All diese Fahrten forderten Opfer und hinterließen eine Vielzahl von Frauen sowie Kindern, die um ihre Ehemänner und Väter trauerten. Auch sie standen am Ufer, hielten Ausschau nach ihren Lieben, die nicht kamen, weil die See sie verschlungen hatte. Sie mussten damit rechnen und lebten in immerwährender Angst.
Der Tod war und ist ein alltäglicher Begleiter, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht.
Der „Glückliche Matthias“ (Matz Peters, 17. Jahrhundert) ist bis heute eine Persönlichkeit der Insel. Sein Haus haben wir in Oldsum, einem malerischen Ort mit Reed gedeckten Friesenhäusern, gesehen. Er war der berühmteste Fischer Nordfrieslands. Er fing 373 Wale, was ihm jede Menge Geld bescherte. Er hatte zwölf Kinder, von denen vier im Kindesalter starben.
Der Walfang im nordischen Eis war brutal und gefährlich. Eine Methode war, die Walbabys von der Herde zu trennen, damit ihre Mütter, die die Kleinen natürlich nicht im Stich ließen, in die Enge getrieben werden konnten. Teuflisch!
Doch das Glück verließ ihn, als Seeräuber drei der Söhne ermordeten. Er selbst konnte sich mit einer beträchtlichen Summe freikaufen und endete als gebrochener Mann.
Gewalt und Brutalität lauern überall. Das war damals so, und ist es auch heute noch.
© Brigitte Voß

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