25.10.2015, Sonntag – Hallig Hooge (Kur 2)

Wir laufen zum Hafen, da wir mit dem Schiff »Hauke Haien« der Hallig Hooge einen Besuch abstatten wollen, auch wenn er wehmütige Gedanken an die Oberfläche spülen wird. Vor etlichen Jahren weilten wir dort während eines Urlaubes mit den Kindern. Diese glückliche Periode verging mit Riesenschritten, die zügig im All verhallten. Andere gemeinsame Lebensetappen erwarteten uns, wurden durchlaufen und zurückgelassen. Ein Stehenbleiben war und ist unmöglich, die Zeit treibt an. Wir haben uns von ihr hetzen lassen, anstatt die Füße im Zeitlupentempo zu bewegen, um bewusster die schönen Momente voll auszukosten. Was bleibt, ist die Erinnerung. Allerdings frage ich mich, was ich mit ihr anfangen soll. In ihr begegne ich Jens, den sie nicht wirklich zurückbringt. Er ist tot, tot, tot … Die aufkeimende Freude, wenn er vor dem inneren Auge auftaucht, weicht dem Schmerz und erweckt nur depressive Stimmungen. So schlendere ich missmutig neben meinem Mann her.
Wir kommen an einer Bank vorbei, auf der eine junge Frau sitzt. Sie lächelt uns an, wobei sie mit einem freundlichen »Hallo« grüßt. Wir erkennen in ihr eine Mitpatientin. Vorgestern trafen wir sie am Strand, wo sie einen Storch

15.10.25_Föhr_Storch-20151020_094120fotografierte, der im Watt nach Nahrung suchte. Wir wechselten einige Worte, obwohl ich eine tiefe Abneigung verspürte, mich mit der Unbekannten zu unterhalten. Adebare am Meer? Sie wusste, dass es in Wyk eine Storchenauffangstation gibt. Einst pflegten Vogelfreunde verletzte Störche. Mit der Zeit wurden sie sesshaft und haben sich um ein Vielfaches vermehrt. Auf dem Gelände der Station bewohnen sie mehrere Nester. Sie können sich frei bewegen. Aufgrund der klimatischen Veränderungen verzichten sie auf die Strapazen des Vogelfluges in den warmen Süden und überwintern auf Föhr. Sie haben ihre Ernährung umgestellt und erfreuen sich an Seesternen, Wattwürmern und Krebsen.
Gestern begegneten wir der jungen Frau mit den halblangen Haaren erneut, da sie, wie wir auch, an einer Inselrundfahrt teilnahm. Als wir den Bus verließen, um einen Blick auf das Meer zu werfen, postierte sie sich vor eine Gruppe von Schafen, die den Deich abgraste.
Und jetzt sitzt sie auf der Bank und teilt uns mit, dass sie nach Amrum möchte. Mein Mann überzeugt sie, ihre Fahrkarte umzutauschen. Die Fähren zur Insel würden das ganze Jahr in Betrieb sein, während das Schiff nach Hooge zum letzten Mal in dieser Saison ablege.
Gemeinsam genießen wir die Schifffahrt. Sibylle ist eine angenehme Gesprächspartnerin, sodass ich die aufkeimende Traurigkeit beim Betreten der Hallig leichter ertrage.15.10.25_Meer und Himmel-20151025_140420
Vorerst trennen sich unserer Wege, da wir mit den Rädern die Landschaft erkunden wollen und sie zu Fuß.
Wir suchen die einsameren Gebiete auf, die außerhalb der üblichen Touristenströme liegen. Die Weite des Meeres, die Lichtreflexe, die die tief stehende Sonne auf den durchnässten Wattboden zeichnet, und das flache Grün, das nur durch die einzelnen Warften unterbrochen wird, wirkt ungemein beruhigend. (Warften sind künstlich aufgeworfene Erdhügel, auf denen die Halligbewohner ihre Häuser erbauten.) Die Tränen, die neuerdings so unkontrolliert aus meinen Augen drängen, wenn ich betrübt bin oder schöne Landschaften 15.10.25_Föhr_Warft-20151025_132209betrachte, bekomme ich wider Erwarten unter Kontrolle. Ich genieße die Stille und die Erhabenheit der Natur.
Auf dem Rückweg treffen wir unsere neue Bekanntschaft. Gemeinsam erreichen wir den Hafen, um zurück nach Föhr zu schippern.
© Brigitte Voß

(Fortsetzung folgt)

Ein Gedanke zu “25.10.2015, Sonntag – Hallig Hooge (Kur 2)”

  1. Hallo, die Schwermut überwiegt noch immer, nicht wahr?!
    Jens wird immer da sein, wenn auch nicht physisch. Ich denke und träume oft von dieser Nacht. Ich versuche diese Träume positiv zu sehen. Angst, Schrecken, Trauer. Es ist etwas Greifbares (wenn auch nur im Traum), real. Wacht man auf : Leere. Und dann doch nicht.
    Die Tränen fließen: sie zeugen davon, dass doch noch Gefühle da sind. Es ist kein Schwebezustand, Man will an den Erinnerungen festhalten und dann auch wieder nicht: sie sind zu traurig. Aber müssen sie es sein?
    Fragen über Fragen.
    Wir schreiten voran… Auch Sie.

    Liebe Grüße

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