26.09.2017, Dienstag – Schreiben

°EINHUNDERTEINUNDDREIßIG WOCHEN NACH DER KATASTROPHE°
Das Zurückdrängen der Trauer gleicht einem verbissenen Kampf gegen trübe Mächte, die nur schwer weichen wollen. Ziel ist die Annäherung an ein einigermaßen normales Leben. Allerdings ist der Weg dorthin wie ein Labyrinth, dessen Ausgang ich nicht finde, obwohl ich mir Mühe gebe. Rückschläge gibt es zuhauf. Niemals habe ich gedacht, was Trauer nach solch einer Katastrophe bedeutet. Sie verläuft für mich komplizierter als in früheren Fällen, in denen ich liebe Familienmitglieder und Freunde durch unheilbare Krankheiten, nagendem Alter und tragischen Unfall infolge eines technischen Defektes verloren habe. Stets war ich geschockt, der Kummer war intensiv und quälend. Doch mit der Zeit nahm ich ihren Tod an und konnte wieder nach vorn schauen. Die Verstorbenen vergesse ich nicht, sie gehören zum Weiterleben dazu.
Der Tod von Jens ist jedoch die Folge eines gewalttätigen, unbarmherzigen Willens. Unser Sohn war ein gesunder, junger Mann, der freudig in die Zukunft schaute und am Leben Spaß hatte. Keiner rechnete mit seinem Tod. Er verstarb mehr als plötzlich. Trotzdem vergehen die Tage, ohne darauf Rücksicht zu nehmen.
Daher ist in mir die Idee gereift, so wie früher eine stinknormale Kurzgeschichte zu verfassen. Sie soll einer bunten Fantasie entspringen und nichts mit Trauer und Flugzeugabsturz zu tun haben. Das würde mich bestimmt auf andere Gedanken bringen.
In der besseren Zeitrechnung war ich auf einer Plattform für Schreiberlinge aktiv. Ich beteiligte mich an Wettbewerben und genoss es, vollkommen in die von mir erzeugten Welten abzutauchen. Es war die pure Ablenkung. Zu gewinnen gab es kaum etwas.
Aus diesen Gründen öffne ich die entsprechende Website, die ich seit dem Tod von Jens selten beachtet habe. Ich halte Ausschau nach einem Schreibwettbewerb und werde sofort fündig. Ein anonymisierter Wettbewerb – das ist genau richtig für mich. Die Aufgabe besteht darin, nach einem vorgegebenen Gemälde eine Geschichte zu erfinden. Abgebildet ist ein Paar, das auf einem Weg, gesäumt von Zypressen, vom Betrachter wegläuft. In meinem Kopf formen sich Ideen für eine romantische Liebesgeschichte mit tragischem Beginn und positivem Ausgang. Stattdessen packt mich der personifizierte Tod an der Hand und schleift mich auf dem Zypressenweg neben sich her. Das führt zu bösen Diskussionen, zwischen uns, die sich um das Sterben von Jens, der Germanwings-Katastrophe und dem Tod im Allgemeinen drehen. Beim Schreiben rege ich mich heftig auf, schließlich redet man nicht jederzeit mit den Tod. Zunächst bin ich erstaunt, was ich Fürchterliches aus dem friedlichen Bild herausgeholt habe. Ich nenne den Thriller »Der Geruch des Todes«.
Zugegeben, ich mag grausige Literatur. Aber in diesem Fall wollte ich einen harmonisch, leichten Text zustande bringen.
Das Klappern auf den Computertasten hat sich wieder einmal verselbständigt, weil sich meine Gedankenwelt um andere Inhalte dreht als um »Friede, Freude, Eierkuchen«. Das Beispiel zeigt deutlich, dass zwischen dem Willen, den Schmerz durch etwas Angenehmes zu dämpfen, und der angekratzten Seele eine Schlucht klafft, die zu überwinden noch nicht klappt.
Als einen Rückschlag betrachte ich das trotzdem nicht. Ich konnte mich mit dem Tod unterhalten. Die fiktive Auseinandersetzung mit dem stinkenden Herrn hat mir gut getan, auch wenn die Begegnung im Reich einer Fantasie stattfand, deren Thema nicht jedermanns Sache ist. Ich habe sie offensichtlich gebraucht.
Schreiben hilft. Menschen, die leiden, sollten es probieren: einen Stift in die Hand nehmen oder die Finger über die Tasten kreisen lassen und schreiben, schreiben, schreiben … Einfach so und jeder für sich.
© Brigitte Voß

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