03.06.2018, Freitag – Architektur einer Katastrophe

Seit dem Flugzeugabsturz, der uns den Sohn nahm, informiere ich mich über vergangene Tragödien oder verfolge entsprechende aktuelle Ereignisse.
Stets bin ich maßlos erstaunt, was für haarsträubende Fehler zum Tod so vieler Menschen führen konnten. Mein Stresspegel schießt höher, wenn es in der Folge um die wichtige Klärung der Schuldfrage geht. Letztendlich will es dann niemand gewesen sein, wobei mich fassungslos macht, dass die Gerichte das akzeptieren. Ein Großteil der Gesellschaft schweigt dazu, sie ist ja nicht direkt involviert. Hinzu kommt der oft stümperhafte Umgang der Behörden mit den Geschädigten, der mich ratlos zurücklässt. Meine Reaktionen wiederholen sich bei nahezu jeder Katastrophe. Das ist kein Wunder, denn ihnen liegt ein wiederkehrendes Muster zugrunde.
Es folgen selbstredende Beispiele:

1. die ICE-Katastrophe von Eschede
Heute vor zwanzig Jahren entgleiste in Eschede auf der Strecke von München nach Hamburg ein Hochgeschwindigkeitszug mit verheerenden Folgen. Die Ursache war ein gebrochener gummigefederter Radreifen. Der Zug donnerte gegen eine Betonbrücke, die zusammenbrach und einen Waggon unter sich begrub. Die nachfolgenden Wagen rasten in die Unfallstelle und wurden zu einem hohen Trümmerturm zusammengeschoben. Dabei starben 101 Fahrgäste. Mehr als 100 wurden verletzt. Bislang ist es das schwerste Zugunglück in der Geschichte der BRD.
Als Hauptursache stellten die Experten gravierende Fehler der Bahn bei der Zulassung und der Wartung infolge einer falschen Inspektionsmethode fest.
Drei Ingenieure (Sündenböcke?) gelangten auf die Anklagebank. Der Gerichtsprozess wurde durch die Deutsche Bahn AG beispielsweise dadurch verzögert, dass ein japanischer Gutachter hinzugezogen wurde, was endlosen Diskussionen zur Übersetzung zur Folge hatte. Letztendlich wurde das Verfahren 2003 vorzeitig beendet. Die Angeklagten erhielten eine Geldstrafe von jeweils 10 Tausend Euro. Eine Beschwerde der Opfer und Hinterbliebenen gegen die Einstellung des Prozesses wurde vor dem Bundesverfassungsgericht nicht einmal zur Entscheidung angenommen. Eine Strafanzeige gegen den Bahnvorstand sowie eine Zivilklage wurden ebenfalls abgewiesen. Bis heute ist die juristische Aufarbeitung offengeblieben. Die Justiz und die Deutsche Bahn AG haben jämmerlich versagt. Unter den Geschädigten wird das bittere Enttäuschung und Wut hervorgerufen haben – eine weitere Traumatisierung.
Für jeden Getöteten hat das Unternehmen 30.000 Mark Schmerzensgeld gezahlt, was die Angehörigen als Geringschätzung bezeichneten.
Fünfzehn lange Jahre mussten die Betroffenen auf eine Entschuldigung seitens der Täter warten. Zum jetzigen Jahresgedenken bittet der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG mit deutlicheren Worten um Verzeihung als fünf Jahre zuvor sein Vorgänger. Er gibt zu, dass im Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen viele Fehler unterlaufen sind.
Die Verantwortung für die Katastrophe hat bis heute niemand übernommen, was Betroffene, auch nach 20 Jahren, immer noch mit Zorn und Unverständnis erfüllt.

2. die Brandkatastrophe im Düsseldorfer Flughafen
Auf dem Flughafen erstickten am 11. April 1996 17 Menschen im ätzenden Qualm eines Großfeuers, 88 wurden verletzt (Rauchvergiftung). Unmittelbarer Auslöser waren Schweißarbeiten an der Decke der Abfertigungshalle. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen brachten skandalöse Missstände zutage: Die Feuerwehr kam zu spät, reagierte falsch, die Leiter ließ sich nicht ausziehen, … sie war überfordert und forderte auswärtige Verstärkung an, die nicht so recht wusste wohin, da sie keine Flughafenpläne besaß.
Der Diensthabende der Notrufzentrale 112 führte Privatgespräche, sodass ihn Flughafengäste nicht sofort erreichen konnten, die im Rauch festsaßen. Anschließend war er unfähig, Hilfe zu organisieren. Viele Feuerwehrmänner wurden verletzt, weil sie keine entsprechenden Atemschutzgeräte bei sich hatten.
Die Entrauchungsanlage erwies sich als äußerst unzulänglich, die Klimaanlage verteilte sogar noch die Rauchgase. Für die Isolierung der Zwischendecke wurde ein leicht brennbares Isolationsmaterial verwendet, aus Kostengründen. Obwohl das Schaumpolystyrol auf einer Liste verbotener Substanzen bei öffentlichen Gebäuden stand, wurde es trotzdem genehmigt. Eine Fluchttür hatte der Architekt in der Planungsphase schlichtweg vergessen. Ein Nachbau sollte erfolgen, doch der Brand war schneller. Brandschutztüren fehlten.
Diese Mängel zu erfahren muss furchtbar für die Familien gewesen sein, die ihre Lieben für immer verloren haben.
Nach allem wurde das fünf Jahre dauernde Gerichtsverfahren beim Landgericht Düsseldorf unter Verhängung von Geldbußen eingestellt, weil nicht feststellbar war, welche der vielen Schlampereien für den Ausbruch der Katastrophe entscheidend waren. Kräftezehrend für die Hinterbliebenen, die um ihre Toten trauerten. Zivilrechtliche Klagen um Schadensersatz folgten.

3. die Flugschaukatastrophe in Ramstein
Am 28. August 1988 stießen während einer militärischen Flugschau auf der von den Amerikanern betriebenen Airbase Ramstein drei Kunstflugmaschinen zusammen, als sie zum Abschluss ein durchstoßenes Herz an den Himmel zeichnen wollten (Kondensstreifen). Sie stürzten ab. Eine der Maschinen explodierte am Boden und triftete in die Zuschauer. Brennendes Kerosin hüllte sie ein. Glühende Trümmerteile flogen durch die Luft. Siebzig Menschen sowie die drei italienischen Piloten starben, Hunderte wurden teilweise schwer verletzt. In der Folge soll es Suizide gegeben haben, weil die Betroffenen ihr seelisches Leid nicht aushielten. Manch Überlebender ist für den Rest seines Lebens durch Brandnarben gezeichnet.
Das Manöver mit dem »durchstoßenen Herzen« wurde in Richtung zu den Zuschauern ausgeführt und genau so von den US-Verantwortlichen genehmigt, obwohl die Aktion als riskant galt und im Vorfeld kritisiert wurde.
Eine konfuse, ungeplante Rettungsaktion nahm ihren Lauf. Es existierten kein Notfallkonzept und keine Rettungsteams, niemand, der irgendetwas koordinierte, man war nicht vorbereitet auf einen derartigen Vorfall. Die US-Streitkräfte praktizierten ihre Regel, die Verletzten, ohne Erstbehandlung so rasch wie möglich in die Krankenhäuser zu bringen (»Load and Go«). Sie hinderten deutsche Rettungskräfte (auch mit Gewalt), venöse Zugänge zu legen, Infusionen zu verabreichen oder andere Erstmaßnahmen zur Lebensrettung zu ergreifen. So wurden Schwerverletzte ohne jegliche Ersthilfe stundenlang herumgefahren, bis eine entsprechende Fachklinik gefunden wurde, weil es den amerikanischen Rekruten an Sprach- und Ortskenntnissen mangelte. Allein dadurch verloren zahlreiche Verwundete, wie sich später herausstellte, ihr Leben.
Im Nachhinein versuchten die US-Streitkräfte, unterstützt vom damaligen Innenminister von Rheinland-Pfalz, das Chaos zu vertuschen, besaßen sogar im Angesicht der Toten und Verletzten die Frechheit sich selbst für ihren Einsatz zu loben. Es erfolgte keine Aufarbeitung. Die US-Militärs fühlten sich nicht zuständig, obwohl sie der Veranstalter des Flugtages waren, auf dem riskante Flugmanöver gezeigt wurden, und dazu noch ein Rettungsplan fehlte. Die deutsche Seite kuschte vor dem großen NATO-Verbündeten. Außerdem brachten die US-Stationierten Geld ins Land.
Die Betroffenen erhielten aus einem Sonderfonds, der durch Italien, die USA und die Bundesrepublik gegründet wurde, finanzielle Entschädigungen für die körperlichen Verletzungen und für ihre Verstorbenen. Sie mussten darum betteln. Posttraumatische Störungen, die sich einstellten, überhaupt das seelische Leid wurden nicht anerkannt. Die einzigen, die sich der Seele dieser Menschen annahmen, waren wie so oft nichtstaatliche Seelsorger.
Ein zehn Jahre nach der Tragödie eingeleiteter Prozess gegen die Bundesrepublik auf diesbezügliches Schmerzensgeld scheiterte 2003, weil das Gericht meinte, der Tatbestand sei zum Zeitpunkt der Klageeinreichung verjährt gewesen.
Bis heute hat niemand die Verantwortung für die Katastrophe übernommen – weder Deutschland noch die USA.

4. die Contergankatastrophe
Noch weiter zurück liegt der Contergankandal (1957 bis 1963). Das Medikament wurde von dem deutschen Pharmaunternehmen Grünenthal entwickelt und 1957 rezeptfrei auf den Markt gebracht. Es war ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, das auch Schwangeren verabreicht wurde, da es gegen Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Phase half. Hinsichtlich der Nebenwirkungen galt es zunächst als besonders sicher und wurde millionenfach rund um den Erdball verkauft. 1961 wurde es wegen gravierender menschlicher Schäden, allerdings erst auf massiven Druck der Öffentlichkeit, von Grünenthal aus dem Verkehr gezogen. Es führte zum Tod von etwa 2000 Kindern und zu schwersten Missbildungen und Nervenschädigungen bei weltweit mehr als 10 000 Neugeborenen, 5000 davon in Deutschland.
1968 standen verantwortliche Mitarbeiter der Grünenthal GmbH vor Gericht. Zwei Jahre später endete dieser Prozess wegen Geringfügigkeit der Schuld der Angeklagten und mangelnden öffentlichen Interesses mit einem Vergleich. Die Pharmafirma zahlte als Folge 100 Millionen DM in die Conterganstiftung. Dafür mussten die Geschädigten auf weitere Klagen und Ansprüche verzichten.
Erst nach 50 Jahren öffneten sich die Lippen des Geschäftsführers, um sich bei den Betroffenen, zu entschuldigen. Noch fünf Jahre vorher versuchte die Firma, mit juristischen Mitteln die Ausstrahlung des Fernseh-Zweiteilers »Eine einzige Tablette« aus dem Jahr 2007 zu verhindern.

Dies sind nur einige Katastrophen. Über die Loveparade und die Entführung der Landshut habe ich im Blog bereits geschrieben. Erwähnen möchte ich noch den islamistischen Terroranschlag auf einem Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016, bei dem 12 Menschen getötet und 55 Besucher verletzt wurden. Denn auch hier zeichnen sich Ähnlichkeiten im Umgang mit den Folgen der Tat ab.

Den genannten Katastrophen ist gemeinsam:
– Überlebende und Hinterbliebene gehen geschwächt aus einer Katastrophe hervor. Es fehlt ihnen an Verhaltensmustern, wie sie mit dem entsetzlichen Leid umgehen sollen, das plötzlich und mit voller Wucht über sie hereingebrochen ist. Sie wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Hilfen laufen oft zu langsam an. Sie haben keine Ansprechpartner oder werden nur ungenügend betreut.
– Das bald darauf einsetzende Gerangel um Bezahlung von Therapien, Entschädigungen, usw. ist demütigend, denn all zu häufig müssen sie als Bittsteller dastehen. Seitens der Behörden mangelt es oft an Sensibilität.
– Normalerweise fehlt den Opfern bzw. Hinterbliebenen die Erfahrung mit Anwälten, Gerichten oder einflussreichen Konzernen, mit denen sie sich zusätzlich zu ihrem Schmerz auseinandersetzen. Sie können leicht zum Spielball unterschiedlichster Mächte werden.
– Eine umfassende juristische Aufklärung der Fehler, Versäumnisse und Unterlassungen, die zu der Katastrophe geführt haben, ist für die Betroffenen enorm wichtig. All zu oft verläuft sie im Sande, weil die Beschuldigten Spuren verwischen, Gerichtsprozesse verzögern oder versuchen, diese gar nicht erst zustande kommen zu lassen. Die Einstellung eines Verfahrens ohne Schuldspruch verletzt die Leidenden ein zweites Mal. Wut und Enttäuschung machen sich breit.
– Eine zusätzliche Bedrohung sind die Verjährungsfristen. (Ich weiß gar nicht, wozu sie gut sein sollen.) Geschädigte dürfen nach deren Ablauf keine Ansprüche mehr stellen, egal was ihnen widerfahren ist. Im Falle einer strafrechtlichen Verjährung wird eine Straftat nicht weiter verfolgt. Die Opfer gehen leer aus. Verjährungsfristen schützen die Täter.
– Die Verantwortung für eine Katastrophe mag sowieso niemand übernehmen, weil dies den Verlust an Ruf und Geld bedeutet. Bei Schuld muss gezahlt werden, und das Image wird angekratzt.
– Manchmal fällt erst nach Jahrzehnten das Wörtchen »Entschuldigung«, wenn von den Geschädigten keine Gefahr mehr ausgeht. Und trotzdem: Sogar eine verspätete Bitte um Verzeihung kann das seelische Leid der Opfer und Hinterbliebenen mildern.
– Die Zeit arbeitet für den Verursacher, weil das öffentliche Interesse schwindet und der Mantel des Schweigens die Katastrophe unter sich begräbt.

PS: Vergleiche mit dem Fall Germanwings drängen sich auf, wenngleich das letzte Wort noch nicht gesprochen wurde.
© Brigitte Voß

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