24.03.2018, Sonnabend – Gedenkfeier (drittes Jahresgedenken der Katastrophe in Le Vernet 4)

Am Ortseingang von Le Vernet müssen wir die Identifikationsbändchen vorzeigen, die um unsere Handgelenke geschlungen sind.
Der Besuch zum Gedenken in Le Vernet wurde von Lufthansa in bescheidenerem Rahmen organisiert als in den vergangenen Jahren. Für mich ist das in Ordnung. Dreihundertfünfzig Hinterbliebene sollen zum Jahresgedenken nach Südfrankreich gekommen sein. Ich habe den Eindruck, dass die Ausländer in der Überzahl sind. Jedenfalls höre ich weniger deutsch als Fremdsprachen.
Mein Mann und ich haben nicht vor, heute zur Aussichtsplattform zu wandern. Das werden wir morgen in aller Ruhe mit Freunden tun.
An der Stele empfängt uns ein großes Aufenthaltszelt, in dem man einen Imbiss zu sich nehmen kann.
Im Gedenkraum halten sich mehrere Menschen auf, auch vor der Stele finde ich keine Besinnung. Wir sind froh, dass wir unseren individuellen Weg gehen. Wir besuchen den Friedhof, wo die Kränze der Offiziellen liegen. Sie sind bunt, der von Lufthansa weiß. Zahlreiche neue Erinnerungsstücke, vorrangig Fotos der Verstorbenen, haben auf der Ablage vor den Namensplatten des Grabes ihren Platz gefunden. Wir zünden eine Kerze an. Wir sind nicht allein. Die Familie aus dem Iran kommt auf uns zu und bietet uns ein irantypisches Neujahrsgebäck an. Sie begehen erst mit Beginn des Frühlings ihr persisches Neujahrsfest.
Wehmütig schauen wir in die Berge, die sich hinter der Friedhofsmauer erstrecken.Wir laufen zurück durch den Ort und setzen uns mit Angehörigen auf die Bank an der Bushaltestelle, damit wir uns in Ruhe unterhalten können. Der Vater zog seine Tochter allein groß, da die Ehefrau früh verstarb. Sie war sein ein und alles. Sie sagte zu ihm, er solle sein Leben genießen, sich vergnügen und später würde sie sich um ihn kümmern. Dazu kam es nicht mehr, sie stürzte mit dem Flugzeug ab.
Wir treffen auf einige Familien, die wir näher kennen. Hin und wieder diskutieren wir über das Denkmal in den Bergen, das die Absturzstelle markiert. Die Meinungen schwanken zwischen strikter Ablehnung und Begeisterung.
»Der bescheidene Hinweisstab war schöner.«
»Sieh es doch mal so: Das Gold soll doch gerade darauf hinweisen, dass hier etwas Ungewöhnliches passiert ist, gerade weil es nicht zur Natur passt.«
Eine andere Ansicht: »Für mich ist das wie ein Schuldeingeständnis der Lufthansa, weil sie so viel Geld dafür ausgegeben hat.«
Eine Begegnung werde ich in Erinnerung behalten. Während wir uns begrüßen und unterhalten, bemerke ich, dass aus ihrem Anorakausschnitt ein Stück Bluse ragt, das einen kleinen Schmetterling offenbart.
Ich: »Oh, Schmetterlinge.«
Sie: »Jetzt hätte ich es beinah vergessen, dir zu sagen. Ich hatte so gehofft, dich hier zu treffen, um dir meine neue Errungenschaft zu zeigen. Ihr seid ja nicht im Hotel. Ich hatte sie extra wegen dir bestellt und heute angezogen.«
Trotz Kälte zieht sie den Anorak aus. Aufgedruckte Schmetterlinge zieren ihre Bluse. Sie weiß von meiner Schwäche, die mit dem Tod von Jens zusammenhängt. In letzter Zeit kaufe ich zuhauf Anziehsachen und Accessoires, auf denen die Flattertiere abgebildet sind. Dankbar schaue ich sie an und freue mich über die Geste. Wir haben unsere Söhne verloren.
Wir sind müde und fahren zurück in die Unterkunft in Digne.
Ich nehme ein Buch zur Hand, um mich abzulenken. Die Buchstaben ergeben keinen Sinn.
Die Kerze für Jens flackert vor seinem Bild.
© Brigitte Voß

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