31.12.2017, Sonntag – Silvester (Le Vernet 4)

Der freundliche Vormittag lädt geradezu ein, spazieren zu gehen. Wir schlagen die Richtung zum Col de Mariaud ein. Mir schmerzen bereits die Muskeln, weil das gestern einsetzende Tauwetter, der kalte Boden sowie der nächtliche Frost den Untergrund in eine spiegelglatte Fläche verwandelt haben und ich aufpassen muss, nicht auszurutschen. Die Straßen werden hier nicht so beflissen gestreut wie in Deutschland, wo alles durch knallharte Gesetze geregelt ist. Außerdem überfriert das Streugut durch die Witterung außergewöhnlich schnell. Wir geben es auf und kehren um.
Mich beschleicht der Verdacht, dass keiner der Einheimischen auf die Idee kommt, bei dieser Glätte durch den Ort zu laufen. Um so reger ist der Fahrverkehr auf der Dorfstraße.
Die schneebedeckten Berge lachen uns an. Die Sonne setzt noch einen drauf.
Da uns die Ruhe über Mittag meidet, setzen wir uns in den Aufenthaltsraum, um zu lesen. Doch auch hier lenken die Fenster ab, die den Blick auf die unschuldige Schönheit der Bergkette freigeben, hinter der so Grauenvolles geschah.
Die Kälte muss sich anstrengen, bis ich endlich bemerke, dass ich friere, denn Jens ist mir außergewöhnlich nah. Es ist Silvester, und die Situation, dass wir in Le Vernet sind, ist speziell. Wir möchten es so.
Die Heizung ist auf siebzehn Grad programmiert. Verändern wir die Einstellung, weist ein Symbol darauf hin, dass wir nicht befugt sind. Das ist bedauerlich, da wir es hier gemütlich finden. So beschließen wir, zum Friedhof zu fahren. Wir benutzen das Auto, anstatt die fünfzehn Minuten zu laufen, weil es extrem rutschig ist. Selbst die wenigen Schritte vom Parkplatz wollen mit Bedacht gegangen sein. Wir geben das Vorhaben auf, Jens gegen Mitternacht am Grab zu besuchen, um mit ihm den Jahreswechsel zu begehen. Die Dorfstraßen sind gefährlich glatt und im Dunkeln nur spärlich, wenn überhaupt, beleuchtet.
Die Kerze, die wir gestern vor der Grabplatte angezündet haben, ist vollkommen überfroren. Glücklicherweise holt mein Mann aus dem Rucksack Teelichter heraus. Er denkt an alles.
Im Hotelrestaurant bekommen wir wie die anderen Gäste auch ein Glas Champagner spendiert. Zu vorgerückter Stunde begeben wir uns auf den Weg in den Gedenkraum. Die Eltern aus Spanien möchten später hinzukommen, während der Rest ihrer Familie plant, mit den Kindern das Neue Jahr im Aufenthaltsraum zu begrüßen.
Durch den Heizlüfter wird es im Nu wohlig warm. Wir sitzen in den Sesseln, die in der Mitte des Gedenkraumes den Tisch umrunden, stellen ein Bild von Jens darauf, daneben drei kleine Flaschen Sekt und zünden Kerzen an. Bis Mitternacht ist noch ausreichend Zeit. Ich laufe die Tischreihen entlang, die die vier Wände säumen, und verharre vor dem ein oder anderen Foto, meist, wenn ich die betreffenden Angehörigen und somit die Geschichte ihrer Verstorbenen näher kenne. Es war einmal …
Ein weiterer Platz ist hinzugekommen, nämlich der von Jordi. Der spanische Sohn sieht mich aus einem Familienfoto heraus optimistisch an.
Nach derartigen Rundgängen kehre ich stets zu Jens zurück, zu den persönlichen Erinnerungsstücken an ihn, die wir für diesen Ort auserwählt haben. Dort fehlt nie seine Lieblingsschokolade, passenderweise behauptet sich jetzt ein Milka-Schokoladen-Weihnachtsmann.
© Brigitte Voß

(Fortsetzung folgt)

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